Kurz bevor mein Sohn geboren wurde, begegnete mir ein Buch. „Artgerecht – Das andere Baby Buch“. Dieses Buch veränderte alles für mich und meinen Mann Moritz als Eltern. Was ich vorher „nur“ als Bauchgefühl spürte, stand nun dort schwarz auf weiß, wissenschaftlich fundiert, recherchiert und wunderbar auf den Punkt gebracht. Ich bin der Autorin Nicola Schmidt bis heute unendlich dankbar für ihren Mut, die Dinge öffentlich anders zu machen.
Kurz nach der Geburt unseres Sohnes stand die Kindergarteneingewöhnung unserer Tochter an. Was wir da erlebten, schockierte mich über alle Maßen. Es ist wohl zusammenfassend als subtile Gewalt zu beschreiben. Und laut einem Interview im „Spiegel“ ist das, was wir dort erlebten, der Standard in deutschen Kindergärten. Wir entschieden uns nach einer überdehnten Eingewöhnung dazu, unser Kind nicht in einen dieser Kindergärten zu geben.
Wir erfuhren von einem Waldkindergarten in der Nähe und wagten einen zweiten Versuch, aber auch hier, nach einem Personalwechsel, das gleiche Szenario.
Ich fragte mich die ganze Zeit, was wohl der Grund sein könnte für diesen harschen, sehr lieblosen und oft sehr abgegrenzten Umgang mit den Kindern. Ich hatte viel Gelegenheit, das zu beobachten und sprach auch mit befreundeten Erzieher*innen über diese Themen. An den Inhalten der Erzieher*innen-Ausbildung oder der pädagogischen Studiengänge liegt es ihrer Meinung nach jedenfalls nicht. Ich war überzeugt, dass 2,5 Erzieher*innen auf 20 Kinder einfach nicht reichen, um eine erholte, des Mitgefühls fähige und zugewandte Atmosphäre zu schaffen. Allerdings ist das der gängige Betreuungsschlüssel, und mehr Geld gibt es nun einmal seitens der Behörden nicht. Ich bin mir sicher, dass diese Art der Stressresistenz in keiner Ausbildung oder Studium erlernt werden kann. Diese Erwartungen, die unsere Behörden an unsere Erzieher*innen stellen, sind einfach übermenschlich und das hat seinen Preis! Was tun also? Wie könnte das gehen? Und da war ich schon mittendrin in der Überlegung, wie Kindergarten für uns sein könnte.
Frisch gestärkt und gut informiert kam ich aus der „Artgerecht-Coach“- Ausbildung und machte mich daran, ein Waldkindergarten-Konzept zu schreiben. Es ließ mich einfach nicht los. Ich überlegte, was es denn braucht, um einen gewaltfreien Umgang nachhaltig zu gewährleisten.
Was, wenn der Waldkindergarten das Dorf ist, und alle Menschen darin sich für eben dieses Ziel des gemeinschaftlichen, fürsorglichen Miteinanders verantwortlich fühlen?
Ich traf einige Familien in meinen „Windelfrei“-Kursen, und so fanden sich schnell zwei Mütter, Corinna Wilden und Swaantje Barth, die Lust hatten mitzumachen. Nach und nach kamen mehr Familien dazu, die Stadt Bornheim freute sich über uns und bahnte uns den Weg. Wir trafen uns im Kitafrei-Netzwerk und arbeiteten gemeinsam, die Kinder immer dabei. Mehr und mehr zog sie Menschen an, die Idee des Waldkindergartens als Clan war geboren.
Ein Kindergarten in der Natur. Gemeinschaft leben über die Grenzen des Kita-Alltags hinaus.
Die Mitarbeiter*innen, von denen einige sich nicht mehr hätten vorstellen können, woanders zu arbeiten als bei uns. Nicht nur wertgeschätzt in ihrer besonders wichtigen Arbeit, sondern auch als Teil der Gemeinschaft und tatkräftig unterstützt von den Eltern. Sie waren es, die entschieden: Ja, wir möchten ein größeres Team sein, und dafür weniger Geld verdienen! So war uns ein besserer Betreuungsschlüssel möglich. Kathi Schwarz, Simone Schattel und Jaqueline André waren die ersten drei Mitarbeiterinnen. Sie legten den Grundstein, dass diese meine Idee Wirklichkeit werden konnte.
Wir hinterfragten alte Glaubenssätze:
„Kein Mama-Garten? Wieso denn nicht? Könnte das nicht sogar sehr bereichernd sein? Das fehlende Glied in der Kette? Hatte überhaupt schon mal jemand den Mut, das auszuprobieren?
Wir entschieden uns also für geplante Unterstützung des pädagogischen Teams durch die Eltern im Kita-Alltag, um den Betreuungsschüssel anzuheben. Das kann natürlich nicht jedes Elternhaus leisten. So bildeten wir Arbeitsgruppen, die jedem Elternteil die Möglichkeit boten, sich mit seinen persönlichen Ressourcen in den Kita-Alltag einzubringen. Es gab Kita-Begleitung, Holzhacken, Handwerkern, Gärtnern, Vorstandsarbeit, Bürounterstützung oder Reinigungstätigkeiten. Die Reinigung des Bauwagens teilen sich nun alle Familien. Ob das immer so reibungslos klappt? Nun ja, es bedarf etwas Führung… 😊
Keine festen Abhol- und Bringzeiten geht nicht? Wirklich nicht? Glaub ich nicht!
Wir probierten es aus, und siehe da: Es klappt sehr gut! Zugegeben, es bedarf ein hohes Maß an Flexibilität. Aber es hat einen großen Vorteil, wenn Eltern im Kita-Alltag als bereichernd und nicht als störend wahrgenommen werden. Es setzt allerdings eine klare Kommunikation voraus. Ein ständiges Abstimmen der Bedürfnisse von Eltern und Erzieher*innen. Ein Vor- und Nacharbeiten. Das kann man sich angewöhnen – und auf einmal ist es ganz leicht. Es gibt bei uns dazu eine Reihe Dokumente und Leitfäden, die es vor allem den Eltern leicht machen, die Bedürfnisse im Kita-Alltag zu verstehen und sich so hilfreich einzubringen oder Unterstützung zu bekommen.
Die Eltern, mit dem tiefen Wunsch nach Unterstützung in der Gemeinschaft und einer liebevollen Atmosphäre für ihre Kinder. Sie bilden heute Fahrgemeinschaften zur Kita oder Schule, organisieren Spieltreffen, unterstützen sich gegenseitig mit Nachmittagsbetreuung und Übernachtungstreffen oder zum Co-Worken, sie kaufen füreinander ein und essen zusammen Abend, fahren zusammen in den Urlaub und besuchen Familienseminare. Clan-Leben wie im Bilderbuch. Ja, das geht, hier und heute. Es ist einfach ein ganz anderes Gefühl, wenn auch Eltern in ihren Sorgen und Nöten gesehen werden und nicht nur Augendreher kassieren. Jeder hier bekommt ein offenes Ohr, auch der/die Erzieher*in, die mal einen schlimmen Tag hat. Offene und liebevolle Kommunikation steckt an, es ist ursprünglich Menschlich.
Die Kinder fühlen sich hier zu Hause. Sie erfahren echte Bindung zu ihren Erzieher*innen, die auch noch zu Besuch kommen, wenn sie schön längst nicht mehr hier arbeiten. Sie erleben die eigenen Eltern als Teil der Großfamilie „Kindergarten“ und erfahren, immer willkommen zu sein, auch wenn schon längst die Schule begonnen hat. Liebevolle Führung und das Begegnen von Regeln entstanden aus dem natürlichen Miteinander. Viel Platz für Freispiel und Individualität im Herzen der Natur. Es gibt Programme vor und nach dem Kindergarten bei den Waldlingen, und ich fiebere dem Tag entgegen, an dem wir uns alle endlich wieder bei großen Festen begegnen dürfen.
Was hier alles möglich war, trotz Corona und zwischenzeitlichem Personalmangel, begeistert mich! Die Waldlinge sind Anziehungspunkt für alle auf der Suche nach dem, was für den Menschen ursprünglich ist.
Wir bilden uns und unser Team weiter mit Hilfe von Nicola Schmidt vom Artgerecht Projekt und der Wildnisschule Teutoburgerwald. Wenn möglich, sind unsere Weiterbildungen auch für die Eltern offen.
Sicher läuft nicht immer alles rund. Auch bei uns gibt es Konflikte und Erschöpfung. Wir lernen zusammen und lassen uns gegenseitig leben. Das sichert uns unseren Anspruch von einem nachhaltigen, gewaltfreien Miteinander für uns und unsere Kinder.
Ich werde manchmal gefragt, welch ein Wahnsinn mich getrieben hat, dieses Projekt zu beginnen. Ehrlich gesagt: Keine Ahnung. Es kam so über mich! Aber ich bin mir selbst und allen Mitwirkenden unendlich dankbar – jeden Tag!
Jenni Klein